1967 fanden erste Treffen für die Vorbereitung einer wegweisenden Ausstellung für die Computerkunst in Zagreb statt. Es wurden Physiker, Mathematiker und Elektroniker kontaktiert. Mit einem Symposium 1968 und ein Jahr später auch der vierten Ausstellung Tendencies 4, wurde durch eine lange Reihe verschiedener Veranstaltungen der Schwerpunkt der Neuen Tendenzen auf "Computer und visuelle Forschung" verlagert. Die Organisatoren kündigten außerdem an, dass die erste Ausgabe der Zeitschrift bit international herausgegeben werden sollte. Das Ziel der Herausgeber war, Informationstheorie, exakte Ästhetik, Design, Massenmedien, visuelle Kommunikation und verwandte Themen zu präsentieren und ein Instrument der internationalen Zusammenarbeit zu schaffen. Außerdem wurden auch Ausschreibungen wie der gleichnamige Wettbewerb Computers and Visual Research veröffentlicht, die später Verbindungen zu Mitarbeitern bei Boeing Computer Graphics und den Wissenschaftlern der Bell Telephone Laboratories herstellten. Kurz vor der Eröffnung von Tendencies 4 öffnete in London im Institute of Contemporary Arts (ICA) am 2. August 1968 die erste umfassende internationale Ausstellung für Computer-Kunst und kybernetische Kunst unter dem Titel Cybernetic Serendipity. Berichten zufolge sahen zwischen 44.000 und 60.000 Besucher die Ausstellung während ihrer knapp zweimonatigen Dauer. Nach dem Ende der Ausstellung in London am 20. Oktober 1968 tourte Cybernetic Serendipity durch die Vereinigten Staaten und wurde dort unter anderem im Smithsonian in Washington D.C. und im neu eröffneten Exploratorium in San Francisco gezeigt. Die Kuratorin Jasia Reichardt war 1965 nach einem Vorschlag von Max Bense auf die Idee gekommen eine Ausstellung zur Thematik des Computers in der Kunst zu inszenieren. Bense hatte nur einige Monate zuvor in der Studiengalerie an der Technischen Hochschule Stuttgart die erste Ausstellung computergenerierter Kunst überhaupt eröffnet.↓[1] Auch die Organisatoren von Tendencies 4 in Zagreb nahmen Kontakt zu Max Bense auf. Dieser war allerdings nicht bereit, sich an einem Projekt zu beteiligen, das als Konkurrenz zu Cybernetic Serendipity verstanden werden könnte.↓[2] Cybernetic Serendipity war die erste Ausstellung, die versuchte, alle Aspekte computergestützter künstlerischer Tätigkeit zu zeigen: Kunst, Musik, Poesie, Tanz, Skulptur, Animation. Der Grundgedanke war, die Rolle der Kybernetik in der zeitgenössischen Kunst zu untersuchen. Die Ausstellung umfasste Roboter, Poesie, Musik- und Malmaschinen sowie alle Arten von Werken, bei denen der Zufall eine wichtige Rolle spielt. Die Ausstellung war in drei Abschnitte gegliedert: computergenerierte Arbeiten; kybernetische Geräte - Roboter und Malmaschinen; Maschinen, die den Einsatz von Computern und die Geschichte der Kybernetik demonstrieren.↓[3]
Cybernetic Serendipity zeigte Arbeiten von 325 Teilnehmern - die meisten von ihnen waren keine Künstler, sondern Wissenschaftler und Ingenieure - auf einer Fläche von 6.500 Quadratmetern. Sie wurde von Dutzenden multinationalen Unternehmen, Forschungslaboren, Universitätsinstituten und Firmen wie IBM, Boeing, General Motors, Bell Labs und den Forschungslaboren der US Air Force unterstützt. Arbeiten von Künstlern, Ingenieuren und Wissenschaftlern wurden nebeneinander ausgestellt, Maschinen wurden neben Kunstwerken gezeigt ohne einen Unterschied zu machen. Obwohl einige der Kunstwerke zur selben Zeit in beiden Ausstellungen, Cybernetic Serendipity und Tendencies 4, gezeigt wurden, wurde Tendencies 4 als die ernsthaftere und arbeitsintensivere Ausstellung zu Computerkunst wahrgenommen. Cybernetic Serendipity war ein Publikumserfolg und wurde in der englischen Presse gefeiert. Trotzdem schrieb Radoslav Putar, ein Mitglied der Neuen Tendenzen, für bit international eine Rezension über Cybernetic Serendipity, in der er beklagte, dass viele der gezeigten Werke nicht von Künstlern, sondern von Wissenschaftlern stammten und dass es keine offensichtliche Verbindung zwischen den Elementen gab, die in der Ausstellung gezeigt wurden. Noch weiter ging der Künstler Gustav Metzger, der in der Ausstellung selbst mit der Arbeit Five Screens With Computer vertreten war. Für die renommierte Kunstzeitschrift Studio International schrieb er eine Rezension, in der er Cybernetic Serendipity als „technologischen Jahrmarkt“ und „technologischen Kindergarten“ bezeichnete, ohne Hinweis darauf, „dass Computer den modernen Krieg beherrschen.“↓[4] Trotz dieser Kritik muss festgehalten werden, dass Cybernetic Serendipity als einer der Gründungsmomente der internationalen Computerkunst anzusehen ist. Einige der ersten computergenerierten Kunstwerke überhaupt wurden in der Ausstellung gezeigt. Darunter auch Werke von Pionieren wie Frieder Nake, Georg Nees und A. Michael Noll. Teilweise wurden Arbeiten zeitgleich in den Ausstellungen Cybernetic Serendipity und Tendencies 4 ausgestellt, so z.B. Nolls Computer Composition with Lines von 1965.
A. Michael Noll ist Professor für Kommunikation. Er hat über neunzig Fachartikel veröffentlicht, sechs Patente erhalten und ist Autor von zehn Büchern. Nolls frühe Arbeit im Bereich der Computerkunst war bahnbrechend und bereitete den Weg für viele andere. Noll wurde außerdem zum Stab des wissenschaftlichen Beraters des Präsidenten im Weißen Haus und befasste sich mit Themen wie Computersicherheit und Datenschutz. Er kam 1962 als junger Ingenieur zu den Bell Laboratories in Murray Hill, New Jersey, wo er sich zunächst mit der Entwicklung neuer Verfahren zur Bestimmung von Sprachfrequenzen beschäftigte. Dabei kam ein damals weit verbreitetes Grafikausgabegerät, eine Kombination aus Kathodenstrahlröhre und Filmkamera, zum Einsatz, mit dem Noll wenig später seine ästhetischen Experimente begonnen hat. Noll verbrachte fast fünfzehn Jahre mit Grundlagenforschung in den Bell Labs, auf Gebieten wie den Auswirkungen von Medien auf die zwischenmenschliche Kommunikation, dreidimensionaler Computergrafik, taktiler Kommunikation zwischen Mensch und Maschine, Sprachsignalverarbeitung und Ästhetik. Er ist einer der ersten Pioniere des Einsatzes von Digitalcomputern in der bildenden Kunst.↓[5] A. Michael Noll schuf seine erste digitale Computerkunst im Sommer 1962. Dies ist in einem technischen Memorandum der Bell Telephone Laboratories mit dem Titel "Patterns by 7090" dokumentiert. In einem frühen Experiment, das er einige Jahre später durchführte, verglich er ein Mondrian-Gemälde mit einem computergenerierten Muster, ein Experiment, das später zum Klassiker wurde. Dazu veröffentlichte er 1966 seinen Aufsatz "Human or Machine". Sein "Computer-Generated Ballet" und der stereoskopische computeranimierte Film "Rotating Four-Dimensional Hyperobjects" waren der erste Einsatz eines digitalen Computers, um eine Animation zu erzeugen. In den Jahren 1968 und 1970 setzte er seine vierdimensionale Computeranimationsmethode ein, um die Titelsequenzen für den Film "Incredible Machine" und für das Fernsehspecial "The Unexplained" zu erstellen. Beides sind sehr frühe Verwendungen der Computeranimation für die Erstellung von Titelsequenzen.↓[6]
Darüber hinaus leistete Noll auch Beitrag zu Ereignissen im Umfeld der Neuen Tendenzen. Er nahm zwar nicht persönlich an dem Kolloqium Tendencies 4 1968 teil, in der folgenden Informations-Ausstellung wurden aber Teile seiner Arbeit Patterns by 7090 gezeigt. Benses Text in dem begleitenden Magazin "bit international" nimmt regelmäßig Bezug auf die Arbeit von Noll. In der zweiten Ausgabe des Magazins veröffentlichte Noll einen Aufsatz mit dem Titel "The Digital Computer as a Creative Medium", in dem er über die Zusammenarbeit von Künstlern und Computern schrieb. Dieser Aufsatz wurde zuvor 1967 in dem Journal Spectrum vom Institute of Electrical and Electronics Engineers veröffentlicht. Außerdem wurden Arbeiten von ihm bei der Ausstellung Tendencies 4 Computers and Visual Research im Jahr 1969 gezeigt. Die erste öffentliche Ausstellung seiner Computerkunst (zusammen mit Zufallsmustern für Erkennungsstudien von Bela Julesz) fand vom 6. bis 24. April 1965 in der Howard Wise Gallery in New York City statt. Dies war die erste Ausstellung dieser Art in den Vereinigten Staaten und die zweite weltweit. Ein anderer Pionier auf dem Gebiet der frühen Computerkunst, Georg Nees, kam ihm zuvor.↓[7] Georg Nees war weltweit der erste, der seine algorithmische Computerkunst öffentlich zeigte. Seine Einzelausstellung in den Räumen der Studiengalerie der Technischen Hochschule Stuttgart war aller Wahrscheinlichkeit nach die erste, in der Zeichnungen gezeigt wurden, die durch die Ausführung von Algorithmen auf einem digitalen Computer unter der Kontrolle eines Programms erzeugt worden waren. Die Zeichnungen erschienen in kodierter Form auf Lochstreifen, bevor sie von einer Zeichenmaschine, dem Zuse Graphomat Z64 Flachbettplotter, physisch erzeugt wurden.↓[8] Die Ausstellung fand im Rahmen des Ästhetischen Colloquiums statt, einem von Max Bense und seinem Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie ständig angebotenen Seminar. Die Ausstellung wurde am Donnerstag, dem 4. Februar 1965, eröffnet und war vom 5. bis 19. Februar 1965 zu sehen. Zu diesem Anlass erschien eine der frühesten Publikationen zur Computerkunst überhaupt, "rot 19". Max Bense verfasste dazu einen kurzen Aufsatz unter dem Titel "projekte generativer ästhetik", welcher als das früheste Manifest der Computerkunst gilt. Nees selbst steuerte kurze Notizen in deutscher Sprache bei, in denen er die Algorithmen, die hinter den begleitenden Zeichnungen stehen, kurz und bündig beschrieb. Diese Texte waren in Form von Pseudocode verfasst.↓[9]
Georg Nees ist einer der sogenannten "drei N" (die anderen beiden sind A. Michael Noll und Frieder Nake). Der Begriff erinnert daran, dass diese drei Wissenschaftler-Künstler die ersten waren, die im Jahr 1965 eine Ausstellung über algorithmische Kunst veranstalteten. Nees war ein Mathematiker, der sein ganzes Berufsleben lang bei der Siemens AG in Erlangen arbeitete. Er promovierte 1969 in Philosophie an der Universität Stuttgart. Max Bense war sein Doktorvater. Die Dissertation wurde 1969 als Buch veröffentlicht, unter dem Titel "Generative Computergraphik". Dies war aller Voraussicht nach weltweit die erste Doktorarbeit zu einem Thema der Computerkunst.↓[10]
Nees hat ausgiebig und weltweit ausgestellt. Er hat eine lange Reihe von Veröffentlichungen zu Themen der Computerkunst, Ästhetik, Semiotik, künstlichen Intelligenz und mehr. Die Kunsthalle Bremen widmete ihm 2005 eine retrospektive Ausstellung. In diesem Museum werden auch zahlreiche seiner Werke aufbewahrt, darunter fast alle, die in seiner Dissertation veröffentlicht wurden. Unter zahlreichen Publikationen von Nees ist das Buch "Formel, Farbe, Form: Computerästhetik für Medien und Design" (Springer Verlag 1995) herausragend. Außerdem war Nees wissenschaftlicher Beirat von Semiosis, der internationalen Zeitschrift für Semiotik und Ästhetik, herausgegeben von unter anderem Max Bense und Elisabeth Walther-Bense.↓[11]
Nees hat an vielen der frühen Ausstellungen für Computerkunst teilgenommen, so etwa Cybernetic Serendipity in London, Tendencies 4 in Zagreb und später auch Tendencies 5 in der Sektion Computer Visual Research. Außerdem publizierte er seinen Aufsatz "Computer Graphics and Visual Complexity" in der zweiten Ausgabe von bit international. Als Frieder Nake im November 1965 seine erste Ausstellung in der Galerie Wendelin Niedlich in Stuttgart vorbereitete, lud der Galerist Bense ein, bei der Eröffnung zu sprechen. Bense schlug vor, Nees mit seinen Werken zu zeigen. Gemeinsam mit Georg Nees organisierte er 1965 eine wegweisende Ausstellung mit computergenerierten Arbeiten, die damals bereits explizit als Computerkunst bezeichnet wurden. Frieder Nake gilt ebenso als einer der Pioniere der Computerkunst. Beeinflusst von Max Bense begann Nake 1963 mit ersten künstlerischen Versuchen am Graphomat von Zuse an der Technischen Hochschule Stuttgart. 1968 nahm er an der berühmten Ausstellung Cybernetic Serendipity in London, sowie am Symposium Computers and Visual Research in Zagreb teil. Im Jahr 1970 war er in einer Sonderausstellung auf der Biennale Venedig vertreten.↓[12] Von 1963 bis 1969 durchlief er eine Abfolge von immer komplexeren Programmen, wobei er die technische Unterstützung von Maschinensprachen wie Fortran IV und Algol 60 nutzte. Seine Hauptarbeitsphasen sind durch Programmsammlungen mit den Namen "compArt ER56" (1963-65), Walk-through-raster (1966), Matrixmultiplikation (1967/68), Generative Ästhetik I (1968/69) gekennzeichnet.↓[13]
1971 erklärte Nake, keine Computerkunst mehr zu produzieren, als er eine Notiz unter dem Titel "There should be no computer art" in Page, dem Bulletin der Computer Arts Society, und auch später in bit international 2 veröffentlichte. Seine Gründe waren hauptsächlich politischer Natur: Er sah nicht ein, wie er aktiv zur Computerkunst beitragen und gleichzeitig ein politischer Aktivist gegen den Kapitalismus sein konnte. Mitte der 1980er Jahre, mit dem Zusammenbruch der radikalen Linken in Westeuropa, nahm er seine Veröffentlichungen zur Computerkunst wieder auf. Mit dem Start seines Projekts "compArt: a space for computer art" im Jahr 1999 kehrte Nake zu seinen Wurzeln als Theoretiker, Autor, Lehrer und Künstler zurück.↓[14]
Frieder Nake ist seit 1972 Professor für Informatik an der Universität Bremen, Deutschland. Von 2005 bis 2019 lehrte er auch an der Hochschule für Künste Bremen. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Computergrafik, digitale Medien, Computerkunst, Gestaltung interaktiver Systeme, Computational Semiotics und allgemeine Theorie der Informatik. Nakes Frühwerk wurde von Max Benses Informationsästhetik beeinflusst, einem Ansatz im Bereich der traditionellen Ästhetik, der auf dem mathematischen Konzept der "Information" im Sinne der Theorie von Claude E. Shannon basierte. Seine zahlreichen Publikationen, u.a. "Ästhetik der Informationsverarbeitung" (1974), trugen zur Förderung der Informationsästhetik bei.↓[15]
Entscheidend für die Entwicklung der Verbindung von technischer Informationstheorie und Ästhetik waren die Arbeiten des Stuttgarter Philosophen Max Bense, der auch an der HfG Ulm lehrte. 1955 gab Max Bense das Buch Denkmaschinen (1952) des französischen Mathematikers und Kybernetikers Louis Couffignal heraus. 1956 erschien sein Buch mit dem bahnbrechenden Titel "Aesthetische Information", und 1960 erschien "Programmierung des Schönen". Später hat er seine Bücher in der fünfbändigen Aesthetica-Reihe gesammelt. Im Vorwort zu Aesthetische Information würdigte Bense ausdrücklich den erheblichen Einfluss von Max Bill auf die Entwicklung der in der Publikation vorgestellten "modernen Ästhetik" und fügte eine Reproduktion von Bills weißem Quadrat (1946) als paradigmatisch für die Schaffung "ästhetischer Ordnung" bei. Benses Idee, die Informationstheorie zur Erklärung ästhetischer Phänomene in der Literatur und der bildenden Kunst anzuwenden, wurde im Laufe der nächsten zehn Jahre in ganz Europa mit Interesse aufgenommen, auch in Zagreb. Bense war es auch, der den Begriff "Programmierung" prominent in die Ästhetik einführte und andere Autoren dazu anregte, dieses Wort sowie technische Begriffe der Informationstheorie in ihren Titeln zu verwenden. Bense, der Ende der 1950er Jahre durch Gillo Dorfles in die italienische Kunstszene eingeführt wurde, war möglicherweise auch eine Inspiration für Arte Programmata. Max Bill und Max Bense verkörpern das Bindeglied zwischen dem Rationalen der europäischen Abstraktion und der Informationstheorie, zwei Modellen, die die Ulmer Designausbildung prägten und einen deutlichen Einfluss auf die Neuen Tendenzen hatten.↓[16]
Benses Einfluss ist weitreichend. So zeigte er im Februar 1965 Werke von Georg Nees in seinem "Ästhetischen Colloquium" und von Frieder Nake in der Galerie Niedlich. Bense schlug auch Jasia Reichardt vor, das Vorhaben zu starten, das zum ersten umfassenden Spektakel der Computerkunst wurde, Cybernetic Serendipity. Ebenfalls war die erste Ausgabe von bit international (The Theory of Informations and the New Aesthetics, 1968) den Theorien von Bense und Moles gewidmet. Er war der Fakultätsberater für den ersten Doktortitel in Computerkunst von Georg Nees und hatte einen starken Einfluss auf die Computer Techniques Group in Japan, sowie auf Frieder Nake und andere.↓[17]
Der Japaner Hiroshi Kawano sagt, dass Max Bense eine wichtige Inspirationsquelle für seine algorithmische Kunst war. Seine Herangehensweise war stark von der Kybernetik und der Informationsästhetik von Bense beeinflusst. Kawano las, sprach und schrieb Deutsch. Sein Archiv, das sich heute im ZKM in Karlsruhe befindet, enthält viele Publikationen von Bense. Er schenkte sein Archiv dem deutschen ZKM, um Max Bense für die Inspiration zu ehren. Kawano nahm an den Symposien und Ausstellungen Tendencies 4 und 5 in Zagreb teil. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel über die Beziehung zwischen Ästhetik, Kunst und Künstlicher Intelligenz. So etwa seinen Beitrag "The Aesthetics for Computer Art" in der zweiten Ausgabe von bit international. Er arbeitete mit dem Computer IBM Review No.6 und publizierte passend dazu über Computersimulation des künstlerischen Schaffens.
Hiroshi Kawano war ebenfalls weltweit einer der ersten, der mit dem Computer experimentierte, um Werke zu schaffen, die in den Bereich der bildenden Kunst eindringen. Seine Pionierstellung ist insofern außergewöhnlich, als er sich dem Bereich der digitalen Kunst von der Philosophie aus näherte, d.h. weder aus der Mathematik/Ingenieurwissenschaft (wie Nees, Noll, Nake) noch aus der bildenden Kunst (wie Csuri, Mohr, Molnar oder Cohen). 1964 veröffentlichte er erste Entwürfe, die an der Universität von Tokio mit Hilfe eines Digitalcomputers berechnet worden waren. Diese Arbeiten wurden 1968 in Europa auf der Ausstellung Tendencies 4, Computers and Visual Research in Zagreb gezeigt, wahrscheinlich die erste Ausstellungsbeteiligung Kawanos.↓[18] Er entwickelte seine eigenen Programme zur Berechnung von Anordnungen farbiger, achsial ausgerichteter Rechtecke. Die Ergebnisse dieser Berechnungen verwendete er, um farbige Bilder von Hand zu realisieren. Er hatte Leute, die ihm dabei halfen. Kawano experimentierte auch mit Texten, Skulpturen und Musik.
Abseits der Neuen Tendenzen und der drei N’s stieß auch der deutsche Künstler Manfred Mohr in den 1960er Jahren auf die Ideen des Philosophen Max Bense. Mohr, der bis in die frühen 60er Jahre noch im Stil des Abstrakten Expressionismus malte, wendete sich daraufhin der Hard Edge Malerei zu. Die in dieser Werkphase (1966-1969) entstandenen Arbeiten sind streng geometrisch, die Motive erinnern an elektronische und technische Zeichen, allerdings arbeitete Mohr zu dieser Zeit ausschließlich analog und ohne die Zuhilfenahme eines Computers.
1967 begegnete Mohr dem französischen Komponisten Pierre Barbaud, der mit Hilfe von Computern Musik komponiert und generiert hat. Mohr der selbst praktizierender Musiker ist, fühlte sich von dieser Begegnung ermutigt und begann sich selbst das Programmieren beizubringen.↓[19] Wenige Jahre später widmete Mohr eine seiner ersten computergenerierten Zeichnungen „P-035 White Noise (Pour Pierre Barbaud)“ dem Musiker. 1968 stieß Mohr auf einen Artikel über Frieder Nake im Spiegel, durch den er auf die Möglichkeit aufmerksam wurde, visuelle Kunst mit dem Computer zu erzeugen.↓[20] 1969 gründete Mohr mit weiteren jungen Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern die „Groupe Art et Informatique de Vincennes“ (GAIV) an der Universität Vincennes in Paris. Die Gruppierung gründete im selben Jahr die Fakultät „Art et Informatique“ und lud unter anderem Abraham Moles und Vera Molnar ein. Max Bense folgte einer Einladung nicht. Die Fakultät hatte an der Universität Zugang zu einem Computer und die Erlaubnis diesen für künstlerische Experimente zu nutzen.↓[21] Mohr verließ die Gruppierung bereits 1970 wieder, da er an der Météorologie Nationale, dem französischen Nationalinstitut für Meteorologie, Zugang zu einem Computer und einem Plotter erhielt. Ab 1969 arbeitet Mohr ausschließlich mit dem Computer. Bereits 1971 erhielt er eine Einzelausstellung im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris. Es war die erste Einzelausstellung eines Künstlers in einem Museum, in der ausschließlich Bilder ausgestellt werden, die an einem Computer erzeugt und vollautomatisch gezeichnet wurden.↓[22]
1971 erschien das Portfolio „Art Ex Machina“ mit sechs Siebdrucken von computergenerierten Bildern. Es wurde von Gilles Gheerbrant in Montréal, Kanada, herausgegeben und veröffentlicht. Es enthält jeweils einen Druck und einen kurzen Text der sechs Künstler Barbadillo, Kawano, Knowlton, Mohr, Nake und Nees. Zusätzlich gibt es einen einführenden Text von Abraham A. Moles. Die sechs Siebdrucke wurden von Pierre Foisy in Montréal gedruckt. Die Auflage umfasst 200 signierte und nummerierte Mappen.↓[23] Diese Mappe war eine der ersten, die Computerkunst auf dem offiziellen Kunstmarkt einführte.
In der Werkphase von 1972 bis 1976 begann Mohr mit dem Würfel als Struktur für seine algorithmischen Kunstwerke zu arbeiten. In den Arbeiten zu „Cubic Limit“ erzeugte Mohr aus den zwölf Linien eines Würfels ein Zeichenalphabet. In einigen Arbeiten werden Statistik und Rotation in den Algorithmus zur Zeichengenerierung einbezogen. In anderen werden mit kombinatorischen, logischen und additiven Operatoren die globalen und lokalen Strukturen der Bilder erzeugt.
Mohr, der auf der Suche nach einem globalen Konzept für seine algorithmischen Kunstwerke war, nutzt von nun an in allen nachfolgenden Arbeiten die feste Struktur des Würfels und des Hyperwürfels in verschiedenen Aspekten, um ein System zu erschaffen, auf das er Regeln anwendet um grafische Objekte zu erschaffen.↓[24] Der Würfel und der Hyperwürfel interessieren ihn jedoch nicht als mathematische Objekte. Er nutzt sie als Quelle visueller Komplexität. In seiner Hingabe an die Idee des rationalistisch determinierten Experiments ist Mohrs Kunst in ihrer Strenge mit derjenigen von Josef Albers und seiner Erforschung der Wechselwirkung der Farbe vergleichbar.↓[25] Albers nutzte für seine künstlerische Forschung das Quadrat als Ausgangsform, Mohr nutzt seit den frühen 70er Jahren den (Hyper-)Würfel. Die frühen algorithmischen Arbeiten von Mohr, beispielsweise P-154-C (1973) oder P-161 (1975) erinnern außerdem an Sol LeWitts Variations of Incomplete Open Cubes (1974).
Beide Werke zeigen die Konstruktion bzw. Dekonstruktion eines Würfels, durch das Hinzufügen oder Entfernen von einzelnen Kanten. Ähnlich wie Mohr nutzte LeWitt den Würfel als Grundstruktur und entwickelte Regeln für die Umsetzung seiner Arbeit. In LeWitts Variations of Incomplete Open Cubes sollen alle Möglichkeiten einen Würfel mit mindestens einer fehlenden Kante darzustellen aufgezeigt werden. Dabei muss jede Variation dreidimensional (d.h. mindestens drei Kanten müssen vorhanden sein) und die Struktur zusammenhängend sein. Zwei Variationen gelten als identisch, wenn sie sich nur durch Rotation unterscheiden, aber als unterschiedlich, wenn sie sich durch Spiegelung unterscheiden. Mit diesen Regeln hat LeWitt 122 verschiedene Variationen ermittelt, einen offenen Würfel darzustellen.
Trotz der äußeren Ähnlichkeit der beiden Kunstwerke unterscheiden sich die Produktionsmethoden der Künstler. LeWitt, ein Pionier der Konzeptkunst, nutzte Skizzen und Modelle um die Anzahl der möglichen Variationen zu ermitteln, während Mohr, ein Pionier der Computer-Kunst, ein Programm schrieb um die möglichen Variationen zu ermitteln.
ANMERKUNGEN
[1] compart [↗]
[2] Medosch, Armin: Art at the Threshold of the Information Revolution (1961–1978), MIT Press, 2016, S. 172
[3] compart [↗]
[4] Medosch 2016, S. 172
[5] Monoskop [↗]
[6] compart [↗]
[7] Monoskop [↗]
[8] compart [↗]
[9] ebenda
[10] ebenda
[11] Monoskop [↗]
[12] Monoskop [↗]
[13] compart [↗]
[14] ebenda
[15] Monoskop [↗]
[16] Weibel, Peter: Intrusion or Inclusion?, in: A Little-Known Story, MIT Press, 2011, S. 44
[17] compart [↗]
[18] compart [↗]
[19] Manfred Mohr [↗]
[20] Klütsch, Christoph: Computergrafik: Ästhetische Experimente zwischen zwei Kulturen. Die Anfänge der Computerkunst in den 1960er Jahre, Springer Verlag, 2007, S. 179–180
[21] ebenda
[22] Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe [↗]
[23] Manfred Mohr [↗]
[24] compart [↗]
[25] compart [↗]
1967 fanden erste Treffen für die Vorbereitung einer wegweisenden Ausstellung für die Computerkunst in Zagreb statt. Es wurden Physiker, Mathematiker und Elektroniker kontaktiert. Mit einem Symposium 1968 und ein Jahr später auch der vierten Ausstellung Tendencies 4, wurde durch eine lange Reihe verschiedener Veranstaltungen der Schwerpunkt der Neuen Tendenzen auf "Computer und visuelle Forschung" verlagert. Die Organisatoren kündigten außerdem an, dass die erste Ausgabe der Zeitschrift bit international herausgegeben werden sollte. Das Ziel der Herausgeber war, Informationstheorie, exakte Ästhetik, Design, Massenmedien, visuelle Kommunikation und verwandte Themen zu präsentieren und ein Instrument der internationalen Zusammenarbeit zu schaffen. Außerdem wurden auch Ausschreibungen wie der gleichnamige Wettbewerb Computers and Visual Research veröffentlicht, die später Verbindungen zu Mitarbeitern bei Boeing Computer Graphics und den Wissenschaftlern der Bell Telephone Laboratories herstellten. Kurz vor der Eröffnung von Tendencies 4 öffnete in London im Institute of Contemporary Arts (ICA) am 2. August 1968 die erste umfassende internationale Ausstellung für Computer-Kunst und kybernetische Kunst unter dem Titel Cybernetic Serendipity. Berichten zufolge sahen zwischen 44.000 und 60.000 Besucher die Ausstellung während ihrer knapp zweimonatigen Dauer. Nach dem Ende der Ausstellung in London am 20. Oktober 1968 tourte Cybernetic Serendipity durch die Vereinigten Staaten und wurde dort unter anderem im Smithsonian in Washington D.C. und im neu eröffneten Exploratorium in San Francisco gezeigt. Die Kuratorin Jasia Reichardt war 1965 nach einem Vorschlag von Max Bense auf die Idee gekommen eine Ausstellung zur Thematik des Computers in der Kunst zu inszenieren. Bense hatte nur einige Monate zuvor in der Studiengalerie an der Technischen Hochschule Stuttgart die erste Ausstellung computergenerierter Kunst überhaupt eröffnet.↓[1] Auch die Organisatoren von Tendencies 4 in Zagreb nahmen Kontakt zu Max Bense auf. Dieser war allerdings nicht bereit, sich an einem Projekt zu beteiligen, das als Konkurrenz zu Cybernetic Serendipity verstanden werden könnte.↓[2] Cybernetic Serendipity war die erste Ausstellung, die versuchte, alle Aspekte computergestützter künstlerischer Tätigkeit zu zeigen: Kunst, Musik, Poesie, Tanz, Skulptur, Animation. Der Grundgedanke war, die Rolle der Kybernetik in der zeitgenössischen Kunst zu untersuchen. Die Ausstellung umfasste Roboter, Poesie, Musik- und Malmaschinen sowie alle Arten von Werken, bei denen der Zufall eine wichtige Rolle spielt. Die Ausstellung war in drei Abschnitte gegliedert: computergenerierte Arbeiten; kybernetische Geräte - Roboter und Malmaschinen; Maschinen, die den Einsatz von Computern und die Geschichte der Kybernetik demonstrieren.↓[3]
Cybernetic Serendipity zeigte Arbeiten von 325 Teilnehmern - die meisten von ihnen waren keine Künstler, sondern Wissenschaftler und Ingenieure - auf einer Fläche von 6.500 Quadratmetern. Sie wurde von Dutzenden multinationalen Unternehmen, Forschungslaboren, Universitätsinstituten und Firmen wie IBM, Boeing, General Motors, Bell Labs und den Forschungslaboren der US Air Force unterstützt. Arbeiten von Künstlern, Ingenieuren und Wissenschaftlern wurden nebeneinander ausgestellt, Maschinen wurden neben Kunstwerken gezeigt ohne einen Unterschied zu machen. Obwohl einige der Kunstwerke zur selben Zeit in beiden Ausstellungen, Cybernetic Serendipity und Tendencies 4, gezeigt wurden, wurde Tendencies 4 als die ernsthaftere und arbeitsintensivere Ausstellung zu Computerkunst wahrgenommen. Cybernetic Serendipity war ein Publikumserfolg und wurde in der englischen Presse gefeiert. Trotzdem schrieb Radoslav Putar, ein Mitglied der Neuen Tendenzen, für bit international eine Rezension über Cybernetic Serendipity, in der er beklagte, dass viele der gezeigten Werke nicht von Künstlern, sondern von Wissenschaftlern stammten und dass es keine offensichtliche Verbindung zwischen den Elementen gab, die in der Ausstellung gezeigt wurden. Noch weiter ging der Künstler Gustav Metzger, der in der Ausstellung selbst mit der Arbeit Five Screens With Computer vertreten war. Für die renommierte Kunstzeitschrift Studio International schrieb er eine Rezension, in der er Cybernetic Serendipity als „technologischen Jahrmarkt“ und „technologischen Kindergarten“ bezeichnete, ohne Hinweis darauf, „dass Computer den modernen Krieg beherrschen.“↓[4] Trotz dieser Kritik muss festgehalten werden, dass Cybernetic Serendipity als einer der Gründungsmomente der internationalen Computerkunst anzusehen ist. Einige der ersten computergenerierten Kunstwerke überhaupt wurden in der Ausstellung gezeigt. Darunter auch Werke von Pionieren wie Frieder Nake, Georg Nees und A. Michael Noll. Teilweise wurden Arbeiten zeitgleich in den Ausstellungen Cybernetic Serendipity und Tendencies 4 ausgestellt, so z.B. Nolls Computer Composition with Lines von 1965.
A. Michael Noll ist Professor für Kommunikation. Er hat über neunzig Fachartikel veröffentlicht, sechs Patente erhalten und ist Autor von zehn Büchern. Nolls frühe Arbeit im Bereich der Computerkunst war bahnbrechend und bereitete den Weg für viele andere. Noll wurde außerdem zum Stab des wissenschaftlichen Beraters des Präsidenten im Weißen Haus und befasste sich mit Themen wie Computersicherheit und Datenschutz. Er kam 1962 als junger Ingenieur zu den Bell Laboratories in Murray Hill, New Jersey, wo er sich zunächst mit der Entwicklung neuer Verfahren zur Bestimmung von Sprachfrequenzen beschäftigte. Dabei kam ein damals weit verbreitetes Grafikausgabegerät, eine Kombination aus Kathodenstrahlröhre und Filmkamera, zum Einsatz, mit dem Noll wenig später seine ästhetischen Experimente begonnen hat. Noll verbrachte fast fünfzehn Jahre mit Grundlagenforschung in den Bell Labs, auf Gebieten wie den Auswirkungen von Medien auf die zwischenmenschliche Kommunikation, dreidimensionaler Computergrafik, taktiler Kommunikation zwischen Mensch und Maschine, Sprachsignalverarbeitung und Ästhetik. Er ist einer der ersten Pioniere des Einsatzes von Digitalcomputern in der bildenden Kunst.↓[5] A. Michael Noll schuf seine erste digitale Computerkunst im Sommer 1962. Dies ist in einem technischen Memorandum der Bell Telephone Laboratories mit dem Titel "Patterns by 7090" dokumentiert. In einem frühen Experiment, das er einige Jahre später durchführte, verglich er ein Mondrian-Gemälde mit einem computergenerierten Muster, ein Experiment, das später zum Klassiker wurde. Dazu veröffentlichte er 1966 seinen Aufsatz "Human or Machine". Sein "Computer-Generated Ballet" und der stereoskopische computeranimierte Film "Rotating Four-Dimensional Hyperobjects" waren der erste Einsatz eines digitalen Computers, um eine Animation zu erzeugen. In den Jahren 1968 und 1970 setzte er seine vierdimensionale Computeranimationsmethode ein, um die Titelsequenzen für den Film "Incredible Machine" und für das Fernsehspecial "The Unexplained" zu erstellen. Beides sind sehr frühe Verwendungen der Computeranimation für die Erstellung von Titelsequenzen.↓[6]
Darüber hinaus leistete Noll auch Beitrag zu Ereignissen im Umfeld der Neuen Tendenzen. Er nahm zwar nicht persönlich an dem Kolloqium Tendencies 4 1968 teil, in der folgenden Informations-Ausstellung wurden aber Teile seiner Arbeit Patterns by 7090 gezeigt. Benses Text in dem begleitenden Magazin "bit international" nimmt regelmäßig Bezug auf die Arbeit von Noll. In der zweiten Ausgabe des Magazins veröffentlichte Noll einen Aufsatz mit dem Titel "The Digital Computer as a Creative Medium", in dem er über die Zusammenarbeit von Künstlern und Computern schrieb. Dieser Aufsatz wurde zuvor 1967 in dem Journal Spectrum vom Institute of Electrical and Electronics Engineers veröffentlicht. Außerdem wurden Arbeiten von ihm bei der Ausstellung Tendencies 4 Computers and Visual Research im Jahr 1969 gezeigt. Die erste öffentliche Ausstellung seiner Computerkunst (zusammen mit Zufallsmustern für Erkennungsstudien von Bela Julesz) fand vom 6. bis 24. April 1965 in der Howard Wise Gallery in New York City statt. Dies war die erste Ausstellung dieser Art in den Vereinigten Staaten und die zweite weltweit. Ein anderer Pionier auf dem Gebiet der frühen Computerkunst, Georg Nees, kam ihm zuvor.↓[7] Georg Nees war weltweit der erste, der seine algorithmische Computerkunst öffentlich zeigte. Seine Einzelausstellung in den Räumen der Studiengalerie der Technischen Hochschule Stuttgart war aller Wahrscheinlichkeit nach die erste, in der Zeichnungen gezeigt wurden, die durch die Ausführung von Algorithmen auf einem digitalen Computer unter der Kontrolle eines Programms erzeugt worden waren. Die Zeichnungen erschienen in kodierter Form auf Lochstreifen, bevor sie von einer Zeichenmaschine, dem Zuse Graphomat Z64 Flachbettplotter, physisch erzeugt wurden.↓[8] Die Ausstellung fand im Rahmen des Ästhetischen Colloquiums statt, einem von Max Bense und seinem Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie ständig angebotenen Seminar. Die Ausstellung wurde am Donnerstag, dem 4. Februar 1965, eröffnet und war vom 5. bis 19. Februar 1965 zu sehen. Zu diesem Anlass erschien eine der frühesten Publikationen zur Computerkunst überhaupt, "rot 19". Max Bense verfasste dazu einen kurzen Aufsatz unter dem Titel "projekte generativer ästhetik", welcher als das früheste Manifest der Computerkunst gilt. Nees selbst steuerte kurze Notizen in deutscher Sprache bei, in denen er die Algorithmen, die hinter den begleitenden Zeichnungen stehen, kurz und bündig beschrieb. Diese Texte waren in Form von Pseudocode verfasst.↓[9]
Georg Nees ist einer der sogenannten "drei N" (die anderen beiden sind A. Michael Noll und Frieder Nake). Der Begriff erinnert daran, dass diese drei Wissenschaftler-Künstler die ersten waren, die im Jahr 1965 eine Ausstellung über algorithmische Kunst veranstalteten. Nees war ein Mathematiker, der sein ganzes Berufsleben lang bei der Siemens AG in Erlangen arbeitete. Er promovierte 1969 in Philosophie an der Universität Stuttgart. Max Bense war sein Doktorvater. Die Dissertation wurde 1969 als Buch veröffentlicht, unter dem Titel "Generative Computergraphik". Dies war aller Voraussicht nach weltweit die erste Doktorarbeit zu einem Thema der Computerkunst.↓[10]
Nees hat ausgiebig und weltweit ausgestellt. Er hat eine lange Reihe von Veröffentlichungen zu Themen der Computerkunst, Ästhetik, Semiotik, künstlichen Intelligenz und mehr. Die Kunsthalle Bremen widmete ihm 2005 eine retrospektive Ausstellung. In diesem Museum werden auch zahlreiche seiner Werke aufbewahrt, darunter fast alle, die in seiner Dissertation veröffentlicht wurden. Unter zahlreichen Publikationen von Nees ist das Buch "Formel, Farbe, Form: Computerästhetik für Medien und Design" (Springer Verlag 1995) herausragend. Außerdem war Nees wissenschaftlicher Beirat von Semiosis, der internationalen Zeitschrift für Semiotik und Ästhetik, herausgegeben von unter anderem Max Bense und Elisabeth Walther-Bense.↓[11]
Nees hat an vielen der frühen Ausstellungen für Computerkunst teilgenommen, so etwa Cybernetic Serendipity in London, Tendencies 4 in Zagreb und später auch Tendencies 5 in der Sektion Computer Visual Research. Außerdem publizierte er seinen Aufsatz "Computer Graphics and Visual Complexity" in der zweiten Ausgabe von bit international. Als Frieder Nake im November 1965 seine erste Ausstellung in der Galerie Wendelin Niedlich in Stuttgart vorbereitete, lud der Galerist Bense ein, bei der Eröffnung zu sprechen. Bense schlug vor, Nees mit seinen Werken zu zeigen. Gemeinsam mit Georg Nees organisierte er 1965 eine wegweisende Ausstellung mit computergenerierten Arbeiten, die damals bereits explizit als Computerkunst bezeichnet wurden. Frieder Nake gilt ebenso als einer der Pioniere der Computerkunst. Beeinflusst von Max Bense begann Nake 1963 mit ersten künstlerischen Versuchen am Graphomat von Zuse an der Technischen Hochschule Stuttgart. 1968 nahm er an der berühmten Ausstellung Cybernetic Serendipity in London, sowie am Symposium Computers and Visual Research in Zagreb teil. Im Jahr 1970 war er in einer Sonderausstellung auf der Biennale Venedig vertreten.↓[12] Von 1963 bis 1969 durchlief er eine Abfolge von immer komplexeren Programmen, wobei er die technische Unterstützung von Maschinensprachen wie Fortran IV und Algol 60 nutzte. Seine Hauptarbeitsphasen sind durch Programmsammlungen mit den Namen "compArt ER56" (1963-65), Walk-through-raster (1966), Matrixmultiplikation (1967/68), Generative Ästhetik I (1968/69) gekennzeichnet.↓[13]
1971 erklärte Nake, keine Computerkunst mehr zu produzieren, als er eine Notiz unter dem Titel "There should be no computer art" in Page, dem Bulletin der Computer Arts Society, und auch später in bit international 2 veröffentlichte. Seine Gründe waren hauptsächlich politischer Natur: Er sah nicht ein, wie er aktiv zur Computerkunst beitragen und gleichzeitig ein politischer Aktivist gegen den Kapitalismus sein konnte. Mitte der 1980er Jahre, mit dem Zusammenbruch der radikalen Linken in Westeuropa, nahm er seine Veröffentlichungen zur Computerkunst wieder auf. Mit dem Start seines Projekts "compArt: a space for computer art" im Jahr 1999 kehrte Nake zu seinen Wurzeln als Theoretiker, Autor, Lehrer und Künstler zurück.↓[14]
Frieder Nake ist seit 1972 Professor für Informatik an der Universität Bremen, Deutschland. Von 2005 bis 2019 lehrte er auch an der Hochschule für Künste Bremen. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Computergrafik, digitale Medien, Computerkunst, Gestaltung interaktiver Systeme, Computational Semiotics und allgemeine Theorie der Informatik. Nakes Frühwerk wurde von Max Benses Informationsästhetik beeinflusst, einem Ansatz im Bereich der traditionellen Ästhetik, der auf dem mathematischen Konzept der "Information" im Sinne der Theorie von Claude E. Shannon basierte. Seine zahlreichen Publikationen, u.a. "Ästhetik der Informationsverarbeitung" (1974), trugen zur Förderung der Informationsästhetik bei.↓[15]
Entscheidend für die Entwicklung der Verbindung von technischer Informationstheorie und Ästhetik waren die Arbeiten des Stuttgarter Philosophen Max Bense, der auch an der HfG Ulm lehrte. 1955 gab Max Bense das Buch Denkmaschinen (1952) des französischen Mathematikers und Kybernetikers Louis Couffignal heraus. 1956 erschien sein Buch mit dem bahnbrechenden Titel "Aesthetische Information", und 1960 erschien "Programmierung des Schönen". Später hat er seine Bücher in der fünfbändigen Aesthetica-Reihe gesammelt. Im Vorwort zu Aesthetische Information würdigte Bense ausdrücklich den erheblichen Einfluss von Max Bill auf die Entwicklung der in der Publikation vorgestellten "modernen Ästhetik" und fügte eine Reproduktion von Bills weißem Quadrat (1946) als paradigmatisch für die Schaffung "ästhetischer Ordnung" bei. Benses Idee, die Informationstheorie zur Erklärung ästhetischer Phänomene in der Literatur und der bildenden Kunst anzuwenden, wurde im Laufe der nächsten zehn Jahre in ganz Europa mit Interesse aufgenommen, auch in Zagreb. Bense war es auch, der den Begriff "Programmierung" prominent in die Ästhetik einführte und andere Autoren dazu anregte, dieses Wort sowie technische Begriffe der Informationstheorie in ihren Titeln zu verwenden. Bense, der Ende der 1950er Jahre durch Gillo Dorfles in die italienische Kunstszene eingeführt wurde, war möglicherweise auch eine Inspiration für Arte Programmata. Max Bill und Max Bense verkörpern das Bindeglied zwischen dem Rationalen der europäischen Abstraktion und der Informationstheorie, zwei Modellen, die die Ulmer Designausbildung prägten und einen deutlichen Einfluss auf die Neuen Tendenzen hatten.↓[16]
Benses Einfluss ist weitreichend. So zeigte er im Februar 1965 Werke von Georg Nees in seinem "Ästhetischen Colloquium" und von Frieder Nake in der Galerie Niedlich. Bense schlug auch Jasia Reichardt vor, das Vorhaben zu starten, das zum ersten umfassenden Spektakel der Computerkunst wurde, Cybernetic Serendipity. Ebenfalls war die erste Ausgabe von bit international (The Theory of Informations and the New Aesthetics, 1968) den Theorien von Bense und Moles gewidmet. Er war der Fakultätsberater für den ersten Doktortitel in Computerkunst von Georg Nees und hatte einen starken Einfluss auf die Computer Techniques Group in Japan, sowie auf Frieder Nake und andere.↓[17]
Der Japaner Hiroshi Kawano sagt, dass Max Bense eine wichtige Inspirationsquelle für seine algorithmische Kunst war. Seine Herangehensweise war stark von der Kybernetik und der Informationsästhetik von Bense beeinflusst. Kawano las, sprach und schrieb Deutsch. Sein Archiv, das sich heute im ZKM in Karlsruhe befindet, enthält viele Publikationen von Bense. Er schenkte sein Archiv dem deutschen ZKM, um Max Bense für die Inspiration zu ehren. Kawano nahm an den Symposien und Ausstellungen Tendencies 4 und 5 in Zagreb teil. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel über die Beziehung zwischen Ästhetik, Kunst und Künstlicher Intelligenz. So etwa seinen Beitrag "The Aesthetics for Computer Art" in der zweiten Ausgabe von bit international. Er arbeitete mit dem Computer IBM Review No.6 und publizierte passend dazu über Computersimulation des künstlerischen Schaffens.
Hiroshi Kawano war ebenfalls weltweit einer der ersten, der mit dem Computer experimentierte, um Werke zu schaffen, die in den Bereich der bildenden Kunst eindringen. Seine Pionierstellung ist insofern außergewöhnlich, als er sich dem Bereich der digitalen Kunst von der Philosophie aus näherte, d.h. weder aus der Mathematik/Ingenieurwissenschaft (wie Nees, Noll, Nake) noch aus der bildenden Kunst (wie Csuri, Mohr, Molnar oder Cohen). 1964 veröffentlichte er erste Entwürfe, die an der Universität von Tokio mit Hilfe eines Digitalcomputers berechnet worden waren. Diese Arbeiten wurden 1968 in Europa auf der Ausstellung Tendencies 4, Computers and Visual Research in Zagreb gezeigt, wahrscheinlich die erste Ausstellungsbeteiligung Kawanos.↓[18] Er entwickelte seine eigenen Programme zur Berechnung von Anordnungen farbiger, achsial ausgerichteter Rechtecke. Die Ergebnisse dieser Berechnungen verwendete er, um farbige Bilder von Hand zu realisieren. Er hatte Leute, die ihm dabei halfen. Kawano experimentierte auch mit Texten, Skulpturen und Musik.
Abseits der Neuen Tendenzen und der drei N’s stieß auch der deutsche Künstler Manfred Mohr in den 1960er Jahren auf die Ideen des Philosophen Max Bense. Mohr, der bis in die frühen 60er Jahre noch im Stil des Abstrakten Expressionismus malte, wendete sich daraufhin der Hard Edge Malerei zu. Die in dieser Werkphase (1966-1969) entstandenen Arbeiten sind streng geometrisch, die Motive erinnern an elektronische und technische Zeichen, allerdings arbeitete Mohr zu dieser Zeit ausschließlich analog und ohne die Zuhilfenahme eines Computers.
1967 begegnete Mohr dem französischen Komponisten Pierre Barbaud, der mit Hilfe von Computern Musik komponiert und generiert hat. Mohr der selbst praktizierender Musiker ist, fühlte sich von dieser Begegnung ermutigt und begann sich selbst das Programmieren beizubringen.↓[19] Wenige Jahre später widmete Mohr eine seiner ersten computergenerierten Zeichnungen „P-035 White Noise (Pour Pierre Barbaud)“ dem Musiker. 1968 stieß Mohr auf einen Artikel über Frieder Nake im Spiegel, durch den er auf die Möglichkeit aufmerksam wurde, visuelle Kunst mit dem Computer zu erzeugen.↓[20] 1969 gründete Mohr mit weiteren jungen Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern die „Groupe Art et Informatique de Vincennes“ (GAIV) an der Universität Vincennes in Paris. Die Gruppierung gründete im selben Jahr die Fakultät „Art et Informatique“ und lud unter anderem Abraham Moles und Vera Molnar ein. Max Bense folgte einer Einladung nicht. Die Fakultät hatte an der Universität Zugang zu einem Computer und die Erlaubnis diesen für künstlerische Experimente zu nutzen.↓[21] Mohr verließ die Gruppierung bereits 1970 wieder, da er an der Météorologie Nationale, dem französischen Nationalinstitut für Meteorologie, Zugang zu einem Computer und einem Plotter erhielt. Ab 1969 arbeitet Mohr ausschließlich mit dem Computer. Bereits 1971 erhielt er eine Einzelausstellung im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris. Es war die erste Einzelausstellung eines Künstlers in einem Museum, in der ausschließlich Bilder ausgestellt werden, die an einem Computer erzeugt und vollautomatisch gezeichnet wurden.↓[22]
1971 erschien das Portfolio „Art Ex Machina“ mit sechs Siebdrucken von computergenerierten Bildern. Es wurde von Gilles Gheerbrant in Montréal, Kanada, herausgegeben und veröffentlicht. Es enthält jeweils einen Druck und einen kurzen Text der sechs Künstler Barbadillo, Kawano, Knowlton, Mohr, Nake und Nees. Zusätzlich gibt es einen einführenden Text von Abraham A. Moles. Die sechs Siebdrucke wurden von Pierre Foisy in Montréal gedruckt. Die Auflage umfasst 200 signierte und nummerierte Mappen.↓[23] Diese Mappe war eine der ersten, die Computerkunst auf dem offiziellen Kunstmarkt einführte.
In der Werkphase von 1972 bis 1976 begann Mohr mit dem Würfel als Struktur für seine algorithmischen Kunstwerke zu arbeiten. In den Arbeiten zu „Cubic Limit“ erzeugte Mohr aus den zwölf Linien eines Würfels ein Zeichenalphabet. In einigen Arbeiten werden Statistik und Rotation in den Algorithmus zur Zeichengenerierung einbezogen. In anderen werden mit kombinatorischen, logischen und additiven Operatoren die globalen und lokalen Strukturen der Bilder erzeugt.
Mohr, der auf der Suche nach einem globalen Konzept für seine algorithmischen Kunstwerke war, nutzt von nun an in allen nachfolgenden Arbeiten die feste Struktur des Würfels und des Hyperwürfels in verschiedenen Aspekten, um ein System zu erschaffen, auf das er Regeln anwendet um grafische Objekte zu erschaffen.↓[24] Der Würfel und der Hyperwürfel interessieren ihn jedoch nicht als mathematische Objekte. Er nutzt sie als Quelle visueller Komplexität. In seiner Hingabe an die Idee des rationalistisch determinierten Experiments ist Mohrs Kunst in ihrer Strenge mit derjenigen von Josef Albers und seiner Erforschung der Wechselwirkung der Farbe vergleichbar.↓[25] Albers nutzte für seine künstlerische Forschung das Quadrat als Ausgangsform, Mohr nutzt seit den frühen 70er Jahren den (Hyper-)Würfel. Die frühen algorithmischen Arbeiten von Mohr, beispielsweise P-154-C (1973) oder P-161 (1975) erinnern außerdem an Sol LeWitts Variations of Incomplete Open Cubes (1974).
Beide Werke zeigen die Konstruktion bzw. Dekonstruktion eines Würfels, durch das Hinzufügen oder Entfernen von einzelnen Kanten. Ähnlich wie Mohr nutzte LeWitt den Würfel als Grundstruktur und entwickelte Regeln für die Umsetzung seiner Arbeit. In LeWitts Variations of Incomplete Open Cubes sollen alle Möglichkeiten einen Würfel mit mindestens einer fehlenden Kante darzustellen aufgezeigt werden. Dabei muss jede Variation dreidimensional (d.h. mindestens drei Kanten müssen vorhanden sein) und die Struktur zusammenhängend sein. Zwei Variationen gelten als identisch, wenn sie sich nur durch Rotation unterscheiden, aber als unterschiedlich, wenn sie sich durch Spiegelung unterscheiden. Mit diesen Regeln hat LeWitt 122 verschiedene Variationen ermittelt, einen offenen Würfel darzustellen.
Trotz der äußeren Ähnlichkeit der beiden Kunstwerke unterscheiden sich die Produktionsmethoden der Künstler. LeWitt, ein Pionier der Konzeptkunst, nutzte Skizzen und Modelle um die Anzahl der möglichen Variationen zu ermitteln, während Mohr, ein Pionier der Computer-Kunst, ein Programm schrieb um die möglichen Variationen zu ermitteln.
ANMERKUNGEN
[1] compart [↗]
[2] Medosch, Armin: Art at the Threshold of the Information Revolution (1961–1978), MIT Press, 2016, S. 172
[3] compart [↗]
[4] Medosch 2016, S. 172
[5] Monoskop [↗]
[6] compart [↗]
[7] Monoskop [↗]
[8] compart [↗]
[9] ebenda
[10] ebenda
[11] Monoskop [↗]
[12] Monoskop [↗]
[13] compart [↗]
[14] ebenda
[15] Monoskop [↗]
[16] Weibel, Peter: Intrusion or Inclusion?, in: A Little-Known Story, MIT Press, 2011, S. 44
[17] compart [↗]
[18] compart [↗]
[19] Manfred Mohr [↗]
[20] Klütsch, Christoph: Computergrafik: Ästhetische Experimente zwischen zwei Kulturen. Die Anfänge der Computerkunst in den 1960er Jahre, Springer Verlag, 2007, S. 179–180
[21] ebenda
[22] Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe [↗]
[23] Manfred Mohr [↗]
[24] compart [↗]
[25] compart [↗]